LESEPROBE
Andreas Rothe: „Vom Trauma zum Frieden“
Die transgenerationale Körperorientierte Traumatherapie (TAKT®) – ein perspektivenverbindender Behandlungsansatz zur Befreiung von Traumafolgesymptomen
Beschreibung des Buches:
Traumatische Erfahrungen und deren Folgen besser verstehen und methoden-übergreifend behandeln
Der in einer Vielzahl von Ansätzen ausgebildete Traumatherapeut Andreas Rothe verdichtet diese hier zu einem übergreifenden Verständnis dessen, was bei Traumatisierungen geschieht und hilft. Gemeinsam mit seinen Kolleg(inn)en Kerstin Flechsig-Balster und Dr. Burkhard Flechsig entwickelte er daraus die TAKT®-Methode zur Behandlung von Traumafolgestörungen und lehrt diese in eigenen Ausbildungsgängen. In ihr verbinden sich körperorientierte, transgenerationale, hypnotherapeutische, neurophysiologische und psychodynamische Erkenntnisse und Erfahrungen zu einem neuen, spannenden therapeutischen Vorgehen. Viele Beispiele, praktische Übungen und Prozessabfolgen bereichern zusätzlich den Inhalt.
Vorwort:
Ich war ein ungewolltes Kind.
Mit 3 Monaten kam ich in eine Wochenkrippe. Ohne Mama lag ich von Montag bis Freitag in einem Gitterbettchen und wurde nur zum Essen, Waschen und Wickeln rausgeholt.
Mit einem halben Jahr ereilte mich eine heftige Bronchitis. Es ging um Leben und Tod. Ich musste ins Krankenhaus. Allein. Keiner aus meiner Familie durfte zu mir. 9 Wochen lang. 1974 war dies in der DDR die Norm.
Das alles wusste ich und hielt es 33 Jahre meines Lebens für eine von vielen Anekdoten. Ich führte ein erfolgreiches und scheinbar zufriedenes Leben mit Frau, 2 Kindern, Wohnung, Auto, Urlaub, Karriere. Bis die Depression kam und mich niederstreckte…
Ich war damals studierter Sozialpädagoge, Kinderheimleiter und Familientherapeut. Das alles half mir jedoch nichts. Nicht Symptome zu verstehen und erst recht nicht, sie zu beeinflussen. So kam ich zur Traumatherapie.
Heute, viele Jahre danach, begreife ich diese Zusammenhänge besser und kann sie in meinem Körper, meiner Seele und meinen Gedanken wahrnehmen. Unser Körper merkt sich alles. Er vergisst nichts.
Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, in Anerkennung des Gewesenen ganz im gegenwärtigen Moment präsent zu sein und was dazu verhilft, mehr und mehr ins Hier-und-Jetzt zu kommen. Denn nur dort findet Heilung statt.
Ich möchte Sie einladen, mit mir in diesem Buch eine Reise zu wagen: Vom Trauma zum Frieden. Die Transgenerationale Körperorientierte Traumatherapie (TAKT®) versteht sich auf diesem Weg als Beschilderung. Mögen Sie für sich und für Ihre Arbeit darin manche Anregung finden.
Zur verbesserten Lesbarkeit habe ich auf die durchgehende Benennung aller Geschlechter verzichtet und bitte den Leser / die Leserin um diesbezügliche Nachsicht.
Ich danke insbesondere meinen beiden lieben Kollegen und Freunden, Kerstin Flechsig-Balster und Dr. Burkhard Flechsig für Ihre fachliche und menschliche Mitwirkung an diesem Buch. Es ist ein Segen, mit Menschen gemeinsam arbeiten zu können, mit denen man auf einer Wellenlänge liegt.
Abschließend danke ich meinen Lehrern, die mich auf meiner Reise vom Trauma zu mehr Frieden wegweisend begleitet haben. Zuallererst Karl Fischer, der erste, der mir eigenständig zu denken beibrachte und Prof. Dr. Peter Schütt, meinem Pädagogikprofessor, der leider viel zu früh verstorben ist. Besonders wertschätzen möchte ich ebenso PhD Lawrence D. Heller und PhD PhD Raja Selvam, die mir, neben vielen anderen, besonders den Blick für Traumadynamiken und deren Neuverhandlung schärften.
Vorgeschichte
Trauma ist der historische Normalfall. Wenn wir uns Gemälde und Fotos aus früheren Jahrhunderten empfindsam anschauen, können wir wahrnehmen, dass die Allermeisten der Abgebildeten energetisch nicht im Hier-und-Jetzt, nicht in einem ganzheitlichen Sinne bei sich und wirklich da sind. Hunger, Krieg, Gewalt, Vertreibung, Vergewaltigung, Krankheiten, Tod und Seuchen waren und sind Steigbügelhalter von Dissoziation und Erstarrung, des Entschwindens aus dieser Welt.
Als Pioniere neuzeitlichen Traumaverständnisses dürfen Pierre-Marie-Felix Janet und Jean-Martin Charcot gelten. Beide interessierten sich am „Hopital de la Salpetriere“ in Paris gegen Ende des 19. Jahrhunderts gemeinsam für die sogenannte Hysterie und vermuteten, dass deren Ausbruch nicht unausweichliches Schicksal, sondern Folge von Erfahrungen sein könnte. Sigmund Freud als deren Schüler postulierte bereits 1895, dass „verdrängte Erinnerungen an die Erfahrung sexuellen Missbrauchs oder sexueller Belästigung in der frühen Kindheit zentrale Voraussetzung für hysterische, obsessive und neurotische Symptome“ seien. Es schlug ihm in der Folge ein denkbar großer Sturm der Entrüstung entgegen, so dass er 1897 eine fatale Kehrtwende vollzog und nunmehr annahm, dass es „die außer Kontrolle geratenen triebhaften Wünsche und Fantasien des Kindes gegenüber den Eltern seien, die den Ursprung zahlreicher Störungen bildeten“. Eine Steilvorlage für Täterintrojekte. Die Zeit war noch nicht reif. Der Mensch und sein Verhalten blieben vorerst verrückt und nicht dessen Erfahrungen.
Im Zuge des ersten Weltkrieges vergab man zunächst die Diagnosen „Granatschock“ oder „Neurasthenie“ an Betroffene von Kriegstraumatisierungen, wobei nur die erste zur Behandlung und einer kleinen Erwerbsunfähigkeitsrente führte. Später dann wurde den Soldaten nur noch Charaktermangel unterstellt und Elektroschocks verabreicht. Auch die Engländer vermieden den Begriff auf Befehl von ganz oben. Stattdessen etikettierten sie: „Not Yet Diagnosed, Nervous.“
Im und nach dem zweiten Weltkrieg versuchten insbesondere die Amerikaner, mit Hypnose zu heilen. Von Charles Samuel Myers („Shellshock in France 1914-1918“) und Abram Kardiner („The Traumatic Neuroses of War“) erschienen 1940/41 zwei wegweisende Schriften zur Behandlung von sogenannten Kriegsneurosen. Diktaturen dagegen, wie die der Deutschen, erachteten derlei für erbliche, rassische oder charakterliche Schwäche. Sie erhielten nach dem Behandlungsansatz des deutschen Psychiaters Fritz Kaufmann (1875 bis 1941) kräftige Wechselströme begleitet von Suggestionen in scharfem militärischem Befehlston. Der gewaltige Schmerzeindruck, so seine Überzeugung, würde den Patienten in die Genesung hineinzwingen.
Bereits während des Krieges verteilte man an viele deutsche Soldaten die sogenannte „Panzerschokolade“, bestehend aus Pervitin (der gleiche Wirkstoff wie bei der Droge Crystal), um mit unterdrückter Angst fortgesetzt kämpfen zu können.
Ab den 1950-er Jahren trat man Traumafolgesymptomen zunehmend mit Neuroleptika, Antidepressiva und Benzodiazepinen entgegen.
Eine humane Auseinandersetzung mit dem Thema Trauma, braucht eine lange Zeit bestehende, existentiell sichere, demokratisch verfasste Umgebung für einen Großteil der Bevölkerung. So ist es nicht verwunderlich, dass erst in den 1970-er Jahren in den USA im Angesicht der Symptombildungen einer abgrenzbaren Gruppe, der Vietnamkriegsveteranen, deren Zusammenhang zu Erlebtem wiederentdeckt wurde.
Immer besser lernten wir seitdem verstehen, was zur Besserung von Traumafolgesymptomen beiträgt und wo Irrglaube herrschte. Die bildgebenden Verfahren in der Diagnostik haben unseren Horizont dabei ebenso erweitert, wie die Erfassung der Begrenztheit verbaler Sprache, der zunehmende Einbezug des Körpers in die Psychotherapie und die Verbindung östlicher und westlicher Heilungsansätze.
Ganz besonders in den Mittelpunkt rückt dadurch die Überwindung der Trennung von seelischer und körperlicher Gesundheit genauso wie die irreführenden Wettstreite zwischen Vererbung und Erfahrung sowie intra- und interpersonellen Ansätzen des Verständnisses und der Therapie. Diesen Kernanliegen widmet sich das perspektivenverbindende Behandlungskonzept der Transgenerationalen Körperorientierten Traumatherapie (TAKT®).
1. Erkennen, Differenzieren und Fokussieren
1.1 Die (Neuro)biologie von Trauma verstehen
Unser Instinkt ist wirkmächtiger als unser Verstand
Das erste Leibhaftige von uns auf dieser Welt ist unser Körper. Ein Zellhaufen, eine Mittellinie, ein Fötus, der schon bald nach einem menschlichen Wesen aussieht. Sind wir dann geboren, entwickeln wir immer differenziertere Gefühle, bringen diese mit unserer Umgebung in Kontakt und sind darauf angewiesen, dass diese uns gut zu spiegeln und zu befriedigen vermag. Erst sehr viel später treten nach und nach die im Großhirn verankerten Qualitäten von Denken, Sprache, Zeiterleben und Bewusstsein hinzu.
Diese Reihenfolge gilt gleichermaßen im Rahmen individueller wie evolutionärer Entwicklung des Menschen und ihre Vergegenwärtigung ist ein zentraler Ausgangspunkt des TAKT®-Konzeptes.
Überreizung des instinktgeleiteten, vegetativen Nervensystems
Um die Einspeicherung traumatischer Erfahrungen in unserem Körpergedächtnis zu verstehen, müssen wir uns zunächst die Funktionsweise unseres autonomen (vegetativen) Nervensystems vergegenwärtigen. Dieses steuert folgende überlebenswichtige Funktionen:
- • Blutdruck
- • Verdauung
- • Körpertemperatur
- • Herzfrequenz
- • Atmung
Lediglich die Atmung ist geringfügig über das Bewusstsein steuerbar, beispielsweise können wir kurz die Luft anhalten oder schneller atmen, jedoch nicht damit bewusst länger als für Sekunden aussetzen. Sie fungiert als Bindeglied zwischen dem unwillkürlichen autonomen und dem willkürlichen motorischen Nervensystem, welches beispielsweise bei Schlaganfällen Ausfallerscheinungen zeigen kann. Wir werden später noch genauer anschauen, wie wir uns diese verbindende Fähigkeit der Atmung traumatherapeutisch zu Nutze machen können.
Das vegetative Nervensystem arbeitet eigenständig im Hintergrund und versucht, Gefahren einzuschätzen und abzuwehren, um uns damit zu schützen. Dieses Geschehen läuft mit hoher Reaktionsgeschwindigkeit aber ziemlich undifferenziert ab.
Je früher uns nun in unserem Leben Erfahrungen begegnen, die subjektiv zu viel, zu schnell und/oder zu plötzlich sind, über umso weniger Möglichkeiten verfügen wir, darauf so zu reagieren, dass wir das Erleben von Steuerungsfähigkeit selbsttätig wiederherstellen können. Das führt zu einer sympathikotonen Überreizung (Überkopplung) des unwillkürlichen, vegetativen Nervensystems, vergleichbar mit einem Fahrzeug, das mit Vollgas, ohne Rücksicht auf Verkehrsregeln und die aktuelle Verkehrssituation unterwegs ist. Wir verlassen unseren „gehaltenen Bereich“, werden wie der Volksmund sagt „ungehalten“. Tiere reagieren in solchen Situationen mit instinktiven Flucht- und Kampfreaktionen. Übersetzt in menschliches Verhalten können sich beispielsweise dann vor allem folgende Symptome zeigen:
auf der Körperebene:
Schwitzen infolge eines Anstiegs der Körpertemperatur, Rötung der Haut, Anstieg des Blutdrucks, Anspannung im Kiefer, Zusammenbeißen der Zähne, schnellere und flachere Atmung, Augen weit geöffnet, Einkrallen der Finger und Zehen, wie auf dem Sprung sitzen, Füße drücken sich vom Boden weg, hoher Muskeltonus, Beschleunigung der Herzschlagfrequenz, verstärktes Zwinkern und Zucken muskulärer Strukturen
auf der Verhaltensebene:
Unruhe, hoher Bewegungsdrang, Unfähigkeit zur Entspannung, Konzentrationsprobleme, schnelles und sprunghaftes Wechseln der Aufmerksamkeit, angespannte Verweigerung, verbale und körperliche Aggressivität
auf der emotionalen Ebene:
Angst, schnelles Aufsteigen von Wut, die ausagiert werden will, Ablehnung bis hin zum Hass
auf der Zuschreibungsebene:
ADHS, Angststörungen, Panikattacken, aggressive Verhaltensstörung, Störung der Impulskotrolle, Substanzenmissbrauch, insbesondere von Nikotin, Alkohol, Heroin, Kokain, Marihuana
Führen diese Flucht- und Kampfreaktionen zur Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit entsteht jedoch kein Trauma, sondern eine selbstermächtigende Bewältigungserfahrung gegenüber dem Auslösereiz.
Eine Erzieherin in einer Heimwohngruppe für Kinder kam nach einer Supervision mit der Frage auf mich zu, ob ihr 8-jähriger Sohn nunmehr eine Traumatherapie bräuchte. Sie schilderte folgendes Geschehen: Als der Junge eines Tages in der Schule die Toilette aufsuchte, stand da zu seiner Überraschung ein älterer Mann, der sich vor ihm entblößte. Er habe reagiert, indem er heftig die Tür zugeknallt hätte (Kampf), weggerannt sei (Flucht) und der Lehrerin Bescheid gesagt hätte, welche die Polizei verständigt habe. Im Weiteren berichtete die Mutter, ihr Sohn schlafe und esse ganz normal und gehe auch wieder scheinbar unbekümmert in die Schule und dort auf die Toilette. Obgleich er eine für ein Kind keinesfalls wünschenswerte Erfahrung gemacht hatte, konnte er an diese unmittelbar aktive Handlungen ankoppeln, die ihn wieder in das Erleben von Steuerungsfähigkeit zurückversetzten. So blieb ihm eine Traumatisierung erspart.
Die überlebenssichernde Bedeutung der Immobilitätsreaktion
Was aber geschieht, wenn wir im Angesicht von instinktiv als existentiell gefährdend identifizierten Situationen nicht vermittels Flucht- und Kampfreaktionen wieder in die Handlungsfähigkeit gelangen?
Hier hat sich die Natur etwas einfallen lassen und uns die dritte Regulationsmöglichkeit, die Immobilitätsreaktion (Totstellreflex, Erstarrung) geschenkt, ohne die uns unsere physiologischen Systeme (z.B. Herzschlag, Blutdruck, Körpertemperatur) ansonsten zeitnah den Gar ausmachen würden. Der Volksmund sagt: „Ich bin vor Angst fast gestorben“. Wir würden jedoch nicht an der Angst, sondern an der physiologischen Dysregulation versterben.
Biologisch geschieht in uns dabei dasselbe, wie in der Maus, mit der die Katze nach missglückter Flucht „spielt“. Leicht vorstellbar, dass diese nicht wirklich tiefenentspannt auf ihr Lebensende wartet, doch bewahrt dieser Abspaltungsmechanismus von Körperempfinden und Gefühl (und bei uns Menschen auch noch des Denkens), ähnlich einer Narkose, zunächst vor dem sicheren Tod ohne Katzenbiss.
Technisch setzt unser Gehirn das vereinfacht beschrieben so um: Es transportiert die Botenstoffe Noradrenalin und Serotonin schneller wieder aus dem synaptischen Spalt an den Rezeptoren der Nervenzellen, also den Stellen, an denen diese sich verbinden können, zurück ins Blut. Dadurch genügt die dort vorhandene Konzentration für die Reizweiterleitung nicht mehr. Nach dem sogenannten Alles-oder-Nichts-Gesetz wird ein Reiz zwischen zwei Nervenzellen jedoch immer ganz oder gar nicht übertragen. Es entsteht ein Effekt als würde der Stecker gezogen. Daher bekommen viele Menschen mit Depressionen (also Unterkopplungsphänomenen) auch Medikamente verschrieben, die als SSNRI, Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, bezeichnet werden, um den gegenteiligen Effekt des Wiederverbindens anzuregen bzw. Unterbrechungsdynamiken zu vermeiden.